Ich hatte vor kurzem das sehr persönliche Privileg, einem sterbenskranken Freund die Füße massieren zu dürfen. Ich werde mein Leben lang dankbar sein für diese reichen Minuten und dafür, dass ich irgendwann mal Füsse massieren gelernt habe und ich würde mich freuen, vielleicht der einen oder dem anderen mit dieser Geschichte Mut zu machen, sich näher an schwerkranke geliebte Menschen heranzutrauen.
Mein sterbender Freund
Mein Freund T. sitzt im Rollstuhl. Ein großer Mann, über 1,90 m, raspelkurz geschorene Haare, blaue Augen. Kluge Augen, hinter denen ein sehr wacher, klarer Geist, ein scharfer, kreativer Verstand, großes Talent und ein göttlicher Humor leben. IT-Spezialist, fürsorglicher Familienvater, liebender Gefährte und leidenschaftlicher Musiker.
Der Mann, mit dem ich 11 Jahre lang auf der Bühne gestanden und Musik gemacht habe, von dem ich sehr viel gelernt, mit dem ich viele tiefe und reiche Gespräche geführt, viel erlebt und noch mehr gelacht habe, kann seit einiger Zeit nicht mehr gehen. Gitarre spielen kann er noch länger nicht mehr, und auch nicht mehr sprechen. ALS* im fortgeschrittenen Stadium. Er sitzt zusammengesunken in seinem elektrischen Gefährt, was ihm noch ein gewisses Maß an selbstständiger Bewegungsfreiheit ermöglicht.
Als ich heute zur Tür reinkomme, kann seine Frau gerade noch sagen „Er will in den Garten!“, da braust er auch schon los, aus der Tür und um die Ecke des Einfamilienhauses in den Garten, so rasant, dass wir beiden Frauen schon befürchten, dass er mitsamt dem schweren Rollstuhl aus der Kurve fliegen wird. Geduld ist nicht seine Stärke, er muß ohnehin den ganzen Tag geduldig sein, jetzt will er endlich raus. Er holpert vor mir in Richtung Gartenzaun, da ganz zum Ende des Grundstücks, wo noch ein hübscher Flecken von der warmen Abendsonne beschienen wird. Dort dreht er den Rollstuhl geschickt mithilfe eines kleinen Hebels um die eigene Achse und sieht mich an, als ob er sagen wollte: „Na, kommst Du auch schon?“. Ich lache, „Du bist zu schnell für mich, Du Verkehrsrowdy!“, in seinen Augen leuchtet ein kleines Grinsen. Er hat seine Gesichtsmimik kaum noch unter Kontrolle, aber diese Augen sind dafür umso beredter, Fenster zur Seele sagt man immer, in seinem Fall kann man das sehr deutlich erleben.
Es geht nicht mehr um Heilung, schon die kleinste Linderung ist ein Geschenk
Es ist ihm schon eine Weile zu mühsam geworden, mithilfe seines Tablets und eines Sprachprogramms zu kommunizieren; einmal mit der Hand klopfen heißt ja, das ist schon anstrengend genug. Von ihm zu hören, wie es ihm geht, kann ich also vergessen; es kommt mir auch irgendwie müßig vor, danach zu fragen, es ist deutlich sichtbar: er ringt um Luft, seine gesamte Atemmuskulatur funktioniert kaum noch, seine Lungenkapazität liegt noch bei 23 %. Er wartet darauf, an eine Beatmung angeschlossen zu werden, die zu Hause stattfinden kann, er will nicht weg dort. Sein Bauch ist stark aufgebläht, das kommt von der künstlichen Ernährung über die Magensonde, Schlucken geht auch schon länger nicht mehr. Ich habe ihn die letzten 2 Jahre regelmäßig behandelt, seit er mir vom Ausbruch seiner Krankheit erzählt hat; lange Zeit zweimal pro Woche, maßgeblich mit Akupunktur. Verzögerung war die Hoffnung, vielleicht sogar Stillstand, manchmal gibt es das; zunehmend ging es dann eher um Linderung, kleine bis kleinste Verbesserungen seines Zustandes, ein bißchen besser Luft kriegen, etwas leichter den Kopf heben können, emotional mehr entspannen.
Wider die Hilflosigkeit – Füsse massieren geht immer
Gott wie oft habe ich meine Unfähigkeit verflucht in dieser Zeit, ein größerer Heiler als ich hätte viel mehr für ihn tun können; mein ab und an von weit her angereister Lehrer hat ihn immer wieder mal behandelt, da konnte ich sehen, was möglich gewesen wäre, aber mit 50 Jahren klinischer Erfahrung kann ich einfach nicht mithalten.
Jetzt jedenfalls sitzen wir hier in der Abendsonne, er in seinem Rollstuhl, ich auf einem Hocker zu seinen Füßen. Einer Eingebung folgend lasse ich die Idee fallen, ihn zu akupunktieren; ist ohnehin für ihn immer mühsamer geworden, ich kann nur noch einige Stellen seines Körpers mühelos erreichen. Stattdessen mache ich mich daran, seine Füsse auszupacken, Füsse massieren geht immer. Ob hochschwangere Frauen mit Rückenschmerzen, Krebskranke während der Chemotherapie, Frischoperierte, Menschen nach Schlaganfall oder sogar im Koma – Füsse massieren geht immer, behutsam, hinfühlend, mit der gebotenen Achtsamkeit, aber wirklich immer, und tut auch immer gut.
Auch der Massierende profitiert davon
Beiden Beteiligten im übrigen, auch ich komme zur Ruhe dabei, kann mein eigenes Aufgewühltsein angesichts der dramatischen Umstände verarbeiten und immer weiter nach innen sinken, in meinen Herzensraum, zu einem Ort, wo Frieden herrscht und Stille, wo ich andocken kann an einer größeres Feld, an eine unerschöpfliche Quelle, wo wir beide entspannen und tanken können und die erheblich viel weiser ist als ich. Von dort steigen klare Impulse auf, unaufgeregt und freundlich, gewähren mir klare Orientierung; dafür bin ich sehr dankbar.
Das Ende der Illusionen - die Realität zulassen
Als ich seine Füße aus den raffiniert gekletteten Spezial-Hausschuhen herauspelle, habe ich erstmal damit zu tun, mir mein eigenes Erschrecken nicht so anmerken zu lassen: Beide Füsse sind stark geschwollen und bläulich-rot verfärbt, der eine noch dazu stark überwärmt. Das ist neu, wir hatten leider ein paar Wochen Behandlungspause aus verschiedenen Gründen, beim letzten Mal waren seine Füsse noch schwach, aber ansonsten normal. Vorsichtig fasse ich seine Füsse an, betaste sie erstmal bis hoch zu Unterschenkeln und Knien. Der venöse Rückfluss scheint nicht mehr gut zu funktionieren, wie auch, wenn man kaum noch eine Atembewegung und auch ansonsten kaum Bewegung hat.
Ich mache mir keine Illusionen: diese Ödeme werde ich nicht wegmassieren, ich werde auch seine Atmung nicht verbessern, der Mann ist auf dem Weg zu sterben. Vielleicht nicht heute und nicht morgen, vielleicht schafft er es noch bis Weihnachten, mit Beatmung, aber viel länger sicherlich nicht.
Kontakt ist immer möglich – über Berührung das Herz sprechen lassen
Hier geht es nicht schon lange nicht mehr um „Heilung“, allenfalls noch um Linderung; worum es aber immer geht, ist Kontakt. Und Kontakt ist auch immer möglich, dazu müssen wir nicht sprechen, schreiben oder sonst wie herkömmlich kommunizieren; wir lassen Hände und Füsse sich austauschen. Von Hand zu Fuß und von Herz zu Herz.
Ich fange also an, diese Füsse einzucremen, die ich so mag, gleichmäßig, behutsam und doch kräftig genug, um ihn nicht zu kitzeln (er ist kitzelig, der Mann, das weiß ich aus den vielen vorhergegangenen Behandlungen). Dann lege ich mir erstmal einen Fuss auf mein Bein, der andere ist bequem in den Fußstützen des Rollstuhls gebettet. Und ich beginne zu massieren, zuerst in langen, fließenden Bewegungen entlang des gesamten Unterschenkels, um vielleicht ein wenig mehr Fluß in sein gesamtes System zu bringen; dann konkreter, ich taste mich entlang einzelner Zonen und Leitbahnen am Fuss, Niere und Blase zu Beginn, um die Flüssigkeiten im Körper zu bewegen.
Aus dem Herzen in die Hände und wieder zurück – ein gegenseitiger Austausch
Innerhalb kurzer Zeit bin ich versunken in diese Tätigkeit; ohne viel zu denken bin ich in meinen eigenen Herzensraum gegangen, den Raum in meinem Brustkorb, und dehne ihn in meiner Vorstellung etwas aus, so dass auch mein Freund dort Platz hat. (Ping Shen** heißt diese rein energetische Praxis, ich habe das von meinem großen Akupunkturlehrer gelernt.)
Und plötzlich passiert es, etwas in mir entspannt, läßt los; ich muss nichts mehr in diesem Moment, habe keinen Anspruch mehr, irgendetwas bestimmtes zu bewirken. Ich werde durchströmt von einer stillen, feinen Glückseligkeit, mein Herz geht auf, alle Anstrengung fällt von mir ab, ich bin auf einmal nicht mehr müde und erschöpft sondern spüre, wie mein gesamtes System beginnt, zu tanken.
Verrückt, ich sitze hier im Garten auf einem kleinen Holzhocker und massiere meinem todkranken Freund die Füsse – und ich erhole mich dabei?! Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, blicke auf in sein Gesicht – und muss lächeln: er hat die Augen geschlossen, den Kopf an die Kopfstütze gelehnt, die Abendsonne im Gesicht und genießt ganz offensichtlich. Entspannt wirkt er, als ob er eine kurze Pause vom anstrengenden Kampf um das nächste Quentchen Luft nehmen würde; er spürt mein Innehalten, die Augen gehen kurz auf, ein warmes Leuchten, eine kleine Frage: is´ was? Ich lächele zurück, nee, is nix, ich guck nur kurz, wie es Dir geht.
Er schließt die Augen wieder, ich mache weiter. Wechsle zum anderen Fuss, dann wieder zurück, massiere mich durch alle inneren Organe bis hin zur Lunge, meine gesamte Zuneigung für diesen besonderen Mann fließt durch mein Herz in meine Hände. Ich lege all meine Liebe in diese Massage, mehr kann ich nicht tun, aber auch nicht weniger. Es wäre genauso, wenn ich diese Füsse einfach nur streicheln würde oder halten; was hier gerade passiert, passiert auf einer anderen Ebene, jenseits von Können oder Wissen, es passiert über den Kontakt und das Aufmachen für das, was gerade ist.
Das Sterben annehmen
Wir wissen beide, dass er stirbt, und in diesem Moment habe ich nichts dagegen. Es ist in Ordnung, es ist so, wie es ist, es darf passieren, wir müssen uns nicht anstrengen in dem Versuch, es zu ändern. Durch viele Gespräche zu Zeiten, in denen er noch sprechen konnte, weiß ich, dass es für ihn auch so ist. Es ist in Ordnung, er hatte ein tolles Leben, er hat alles erlebt, was er in seinem Leben erleben wollte, jetzt endet es halt, bißchen früh, aber na gut. Er hat es mal so beschrieben, als stünde er mit all seinen Lieben auf einem Bahnsteig, in den ein Zug einfährt; und er bestiege als Einziger diesen Zug und würde sich aufmachen an einen neuen Ort, an dem er noch nie war, und die anderen blieben auf dem Bahnsteig zurück.
Das mag nur ein Teil seiner Wahrheit gewesen sein, aber in diesem Augenblick hier im Garten ist alles ok. Als ich fertig bin, sehe ich wieder zu ihm auf; ich fühle mich total erholt und erfrischt, als hätte ich Stunden tief geschlafen, und seine Augen leuchten.
Wenn aus Angehörigen Pflegekräfte werden – Überforderung und Einsamkeit
Zurück im Haus, bemerkt auch seine Frau das Leuchten; „So sieht er immer aus, wenn Du hier warst, Du tust ihm einfach sehr gut; es ist ihm auch immer total wichtig, dass Eure Verabredungen stattfinden.“
Ich wundere mich wieder mal, das hat sie schon öfter gesagt; dabei habe ich selbst immer gar nicht das Gefühl, irgendetwas wesentliches für ihn tun zu können. Sie erzählt mir, dass sie selbst sich so hilflos fühlt, so gerne etwas für ihn tun würde (und das die Frau, die ihn aufopferungsvoll pflegt rund um die Uhr, bis an ihre Grenzen und in Wirklichkeit schon lange weit darüber hinaus). Und unter Tränen, dass es so verrückt ist: obwohl sie ja den ganzen Tag zusammen sind, fühlt sie sich einsam. Diese beiden, die ihr ganzes gemeinsames Leben lang immer viel und über alles gesprochen haben, die sich immer reichhaltig ausgetauscht haben und 3 Kinder großgezogen, können nicht mehr miteinander reden. Das fehlt ihr sehr; sie ist so mit der ganzen Pflege beschäftigt, dass sie zu gar nichts anderem mehr kommt. Und sie weiß nicht, wie es ihm wirklich geht, er teilt sich ja nicht mehr mit, darunter leidet sie.
Er verfolgt unser Gespräch, ganz wach, total klar, sehr aufmerksam; sehr interessiert an der Wahrheit, so war er immer, belanglose Themen ermüden ihn mittlerweile schnell, aber jetzt fällt alle Müdigkeit von ihm ab.
Vielleicht ein Weg aus der „Pflegefalle“?
Ich schlage vorsichtig vor, wie es denn wäre, ab und zu mal etwas liegen zu lassen und stattdessen sich zu ihm zu setzen und einfach nur seine Hand zu halten? Der innigen Verbundenheit, die zwischen diesen beiden Menschen in mehr als einem halben Leben gewachsen ist, Raum zu geben und ihre Herzen miteinander sprechen zu lassen?
Ich sehe die Tränen in ihren Augen und kann es so gut verstehen: diese Innigkeit, diese Intimität zuzulassen ist genau das, wonach sie sich sehnt; gleichzeitig bedeutet es, auch den Schmerz über den bevorstehenden Verlust zuzulassen, das will sie ihm nicht zumuten und sich vielleicht auch nicht, sie kann doch nicht neben ihm sitzen und heulen…
Ich sehe ihren Mann an: groß sind seine Augen jetzt, eindringlich sieht er sie an, er klopft einmal auf den Tisch; einmal Klopfen heißt ja. Ich mache sie darauf aufmerksam, guck mal, guck ihn Dir an, er sagt gerade ja, ich glaube, das wäre für Euch beide schön (wieder ein Klopfen).
Ich mache ja in Wirklichkeit auch gar nichts Besonderes; einfach mal ein paar Minuten nur freundlicher Kontakt, ein Kontakt, der mal für beide nicht anstrengend ist, wo beide mal nichts müssen, eine kleine Auszeit für euch beide aus eurer so übermenschlich anstrengenden Situation, ich glaube das könnte doch vielleicht schön sein (Klopfen).
Sie zweifelt noch, ringt mit sich, ist so gnadenlos überfordert mit all dem. Aber schön wäre das, sie hofft auf die baldige Beatmung, dann kümmert sich ein Team zu Hause um ihn, sie kann einen Teil ihrer Krankenschwester-Rolle abgeben und dann hoffentlich wieder mehr Zeit mit ihm als seine Gefährtin verbringen.
Bald darauf verabschiede ich mich mit dem Vorschlag, in zwei Tagen direkt nochmal zu kommen; er freut sich, ich habe Sehnsucht, kann sie überzeugen, dass sie sich nicht um mich kümmern muß, sie kann die kleine Auszeit auch gut für andere Dinge gebrauchen.
Abschied und Dankbarkeit
Ich bin dann tatsächlich am übernächsten Tag direkt noch einmal dort gewesen, wir haben noch einmal eine wunderschöne Dreiviertelstunde im Garten in der Abendsonne verbracht. Eine Woche später erhielt ich die Nachricht, dass er plötzlich über Nacht gestorben war. Ich war geschockt, traurig und unendlich dankbar für diese beiden letzten kostbaren Begegnungen, die mir mit ihm noch vergönnt waren. Unendlich dankbar dafür, irgendwann in grauer Vorzeit mal Füsse massieren gelernt zu haben und so überhaupt auf die Idee gekommen zu sein, und auch dafür, auf diese schlichte Art einen so nahen und schönen Kontakt erlebt zu haben. Auch sehr erleichtert, dass er diese schwere Zeit nun hinter sich hat; jetzt kann es weiter gehen, vielleicht an einem anderen Ort, vielleicht in einem anderen, befreiten, leichten Zustand, wer weiß. Ich wünsche Dir eine gute Reise, lieber Freund, und danke für alles.
Deine Lynn
*ALS = Amyothrophe Lateralsklerose, eine degenerative Nervenerkrankung, die mit der Zeit zunehmend zu Muskelschwäche und Muskelschwund führt (berühmtester Patient war der Physiker Steven Hawking) und im Durchschnitt nach etwa 3 Jahren tödlich endet.
**Ping Shen: wer mehr über die Ping Shen – Behandlungsmethode erfahren möchte, kann hier weiterlesen: Ping Shen
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